- minoische Kultur
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ägäische bronzezeitliche Kultur auf Kreta im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr.; die Blütezeit lag in der ersten Hälfte und Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr.; den Namen erhielt sie von A. J. Evans, dem Ausgräber von Knossos, nach dem sagenhaften König Minos.Die minoische Kultur wird nach Vorstufen im Neolithikum, in dem - trotz der Rolle fremder kultureller Einflüsse - ihre Wurzeln liegen, zunächst in drei Phasen der frühen Bronzezeit fassbar: frühminoisch I-III = Vorpalastzeit (etwa 2900 bis etwa 2000 v. Chr.). Sie erreichte einen ersten Höhepunkt in der mittleren Bronzezeit: mittelminoisch I-II = ältere Palastzeit (etwa 2000 bis etwa 1550 v. Chr.) und ihre größte Verbreitung am Anfang der späten Bronzezeit: mittelminoisch III/spätminoisch I-II = jüngere Palastzeit (etwa 1550 bis etwa 1375 v. Chr.). Die letzte Stufe, spätminoisch III, wird als Nachpalastzeit (etwa 1375 bis etwa 1100 v. Chr.) bezeichnet.Wichtig im stratigraphischen Befund sind Zerstörungsschichten, die in der Mehrzahl wahrscheinlich auf Erdbeben zurückzuführen sind. Die künstlerische Entwicklung wurde von diesen Zerstörungen nicht beeinträchtigt. Im 17. Jahrhundert v. Chr. wurden alle Paläste und die sie umgebenden Städte betroffen (nach neuesten Forschungen erfolgte 1645 ein schwerer Vulkanausbruch); die Paläste wurden danach wieder aufgebaut (jüngere Palastzeit). Verheerende Auswirkungen der Vulkankatastrophe von Thera lassen sich auf Kreta weder geologisch noch archäologisch fassen. Weit reichende Zerstörungen um 1450 v. Chr. gehen entweder auf Erdbeben, kriegerische Ereignisse oder beides zurück. Knossos erlitt jedoch nur geringfügige Schäden. Der hier in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts v. Chr. auftretende »Palaststil« mit seinen stilistischen Veränderungen weist offenbar auf stärkere Annäherungen an die mykenische Kultur, aber nicht auf eine kulturelle Vorherrschaft des mykenischen Festlandes. Sicher lässt sich diese jedoch nach 1375 v. Chr. (Zerstörung des Palastes von Knossos) nachweisen. Möglicherweise ging der Zerstörung von Knossos ein Aufstand der kretischen Bevölkerung gegen die dominierenden Achaier voraus.Die minoische Kultur war vielleicht in der östlichen Hälfte Kretas stärker vertreten als im Westen, jedoch ist z. B. auch in Chania ein Zentrum der minoischen Kultur zu sehen. Den Seehandel sicherten Stützpunkte auf Melos, Keos (Kea), Thera, Kythera, Ägina, Milet und Rhodos, wo sich die minoische Kultur schnell verbreitete und von dort weitervermittelt wurde, besonders über Kythera auf die Südpeloponnes. Kretische Fundorte sind neben den ausgegrabenen Palästen von Knossos, Phaistos, Hagia Triada, Mallia, Kato Zakros u. a. Amnisos, Archanes, Chania, Gurnia, Kommos, die Ebene von Messara, Mochlos, Myrtos, Palaikastro, Psira, Pyrgos und Tylissos.Mittelpunkt der Gesellschaft war der königliche Palast, in dem die sakralen und die wirtschaftlichen Funktionen konzentriert waren. Hier fanden kultische Veranstaltungen statt, die Versammlung der Menge vor dem Heiligtum, wobei die Hauptrolle den Frauen und Priesterinnen zukam, besonders der Priesterin, die im kultischen Geschehen die große Muttergöttin verkörperte, sowie auf dem Theaterplatz die Stierspiele, bei denen junge Frauen und Männer über den Stier voltigierten. Wirtschaftlich gesehen war der Palast Verwaltungszentrum, von dem aus Landwirtschaft, Handel, Handwerk und Versorgung zentral organisiert wurden. Die landwirtschaftlichen Produkte wurden anscheinend zum größten Teil im Palast abgeliefert und dort verbucht und in Magazinen gespeichert, wozu große Tonkrüge (Pithoi) dienten. Die landwirtschaftlichen Produkte umfassten v. a. Oliven, Olivenöl, Getreide (Gerste, Weizen, Hirse), Wein, Honig, Milch, Feigen, Datteln und Safran. Auch Schweine, Rinder und Schafe wurden gehalten. In den eng bebauten Städten gab es in der Regel auch stattlichere Häuser, außerdem waren herrschaftliche Landsitze über die Insel verstreut. Ohne die Annahme völliger Befriedung und Beherrschung der Seewege lässt sich ein verständliches Bild des wirtschaftlichen Hintergrunds der minoischen Kultur nicht gewinnen. Exportiert wurden Zypressenholz, Speise- und Lampenöl, Salben, Wein sowie Handwerkserzeugnisse, besonders die künstlerisch hochrangige bemalte Keramik, auch purpurgefärbte Stoffe und Edelmetall- und Bronzearbeiten. Die Paläste waren selbst Zentren handwerklich-künstlerischer Produktion, teils für den Eigengebrauch, teils für den Export. Als Zahlungsmittel konnten große Bronzebarren dienen. Die Entlohnung der zum Teil sehr spezialisierten Arbeiter erfolgte wohl in Naturalien. Träger der minoischen Kultur war eine altägäische Bevölkerung von (nach den Darstellungen zu urteilen) zierlichem Körperbau. Ob die Minoer eine Literatur besaßen, lässt sich nicht mehr erschließen, die aufgefundenen Tontäfelchen der Palastarchive enthalten nur Verwaltungsnotizen. Musikinstrumente sind verschiedentlich dargestellt, z. B. wird auf der »Schnittervase« aus Hagia Triada der Zug der Olivenarbeiter von einem Spieler, der ein Sistrum spielt, und drei Sängern angeführt.Von den verschiedenen Kunstgattungen ist die Keramik am besten überliefert, sie liefert auch die eigentlichen Grundlagen der Chronologie der minoischen Kultur Technik, Formen und Dekorationen spätneolithische Vasen haben Anteil an der Entstehung der vorpalastzeitlichen, nach Fundorten (z. B. Pyrgos, Kumasa, Vasiliki) benannten bronzezeitlichen Vasengattungen. Leitformen dieser noch ohne die schnell rotierende Drehscheibe geformten Gefäße sind doppelkonische Becher, Schnabelkannen und Teekannen. Neben geometrischen Ornamenten gab es auch »geflammte« Dekorationen (Vasiliki). Weiße Muster auf dunklem Grund leiteten um 2000 v. Chr. zur ersten Blütezeit der minoischen Keramik über. Die reife Stufe dieser mehrfarbigen Kamaresvasen gehört mit einem reichen Repertoire an scheibengedrehten Formen in die jüngere Phase der älteren Palastzeit (19./18. Jahrhundert v. Chr.). Leitformen der Ornamentik sind die Spirale und die Torsion, häufige Motive sind Palmetten und Dreiecke. Mit Beginn der jüngeren Palastzeit wurden die Dekorationen (neue Spiralformen, naturalistische Blüten- und Meeresweltdekore) schwarz(braun) auf einen hellen Grund gemalt. Häufigste Keramikform wird die Bügelkanne. Die Gefäße im »Meeresstil« verdeutlichen besonders die Sichtweise der minoischen Künstler, z. B. werden die Arme eines Oktopus in Spiralformen angeordnet, Tiere, Korallenriffe (von oben gesehen) u. a. wie ein Wellenband. Die großen Amphoren u. a. Gefäße des »jüngeren Palaststils« von Knossos zeigen eine Verfestigung des Stils, besonders eine Vertikalisierung in der Bemalung. Er zeigt anscheinend den Beginn mykenisch geprägten Stilempfindens an.Aus Elfenbein und verschiedenen Steinen gearbeitete Siegel unterschiedlicher, auch figürlicher Gestalt setzten in der Vorpalastzeit (frühminoisch II) ein (Messara) und erreichten mit figürlichen Motiven (kultische Szenen, Fabelwesen, Tiere) eine Blüte in der älteren Palastzeit; goldene Siegelringe wurden v. a. auf dem griechischen Festland gefunden. Seit der jüngeren Palastzeit herrschten abstrakte Motive vor.Der Schmuck aus Gold, Bergkristall, Lapislazuli, Elfenbein, Fayence, Glas u. a. Material begegnet ebenfalls schon in der Vorpalastzeit (Mochlos). Hervorragende Goldarbeiten wie der Anhänger »Bienen von Mallia« sind in der älteren Palastzeit entstanden. Granulation, Filigran, Lötung und Niello wurden angewendet. Den großen Goldbecher von Vaphio hat im 15. Jahrhundert v. Chr. sicher auch ein kretischer Goldschmied getrieben (Anordnung der naturalistischen Szenen nach dekorativen Grundschemata, z. B. der Spirale). Überliefert ist eine Fülle kleinplastischer Werke: Figürchen der Priesterinnen mit Schlangen vom Beginn der jüngeren Palastzeit, etwas später ist der kleine Stierspringer aus Elfenbein zu datieren. Zur Plastik der jüngeren Palastzeit kann man auch die Spendengefäße (Rhyta) aus Marmor, Onyx oder Steatit rechnen; Letztere waren mit geschnittenen Reliefs verziert und ursprünglich mit Blattgold belegt oder hatten die Form eines Stier- oder Löwenkopfes und waren mit Einlegearbeiten versehen (z. B. die »Schnittervase«). Von den Weihgaben sind die meisten aus Ton oder Bronze, teils vollplastisch, teils als Reliefs. Besonders zahlreich sind Stiervotive. Die Beterhaltung der Statuetten ist durch die Haltung der Arme charakterisiert, wobei eine Hand vor die Stirn gelegt ist und die andere (meist) die gegenüberliegende Schulter berührt. Stark stilisierte, auf der Töpferscheibe geformte Tonidole aus der Nachpalastzeit ähneln gleichzeitigen mykenischen Idolen des griechischen Festlandes; die erhobenen Arme sind Zeichen der Epiphanie der Gottheit.Minoische Paläste und Villen haben verwandte Grundrisse, wenn auch die Paläste wesentlich weitläufiger waren und als Eigenheit den großen Mittelhof aufweisen. Stockwerkbauten mit bis zu vier Geschossen sind wohl durchdacht, Hoffassaden, Zugänge, Treppen oder Treppenhäuser, Lichthöfe, Veranden oder Korridore und Repräsentationsräume sind abwechslungsreich angeordnet und ausgestaltet (u. a. Wandmalerei, bemalte Stuckreliefs). In die Paläste waren Wasserversorgungs- und Abwassersysteme integriert. Klimatische Erwägungen (Schattenkühle) spielten offenbar eine Rolle bei der Planung. Auffällige Eigenheiten der minoischen Architektur sind das verschachtelte Grundrisskonzept, die um Ecken führenden schmalen Zugänge der Paläste, die nach Richtungswechseln zum Mittelhof führen, und die durch Vor- und Rücksprünge gestalteten Außenfassaden der Paläste.Freskomalerei und bemalte Stuckreliefs setzten schon in der älteren Palastzeit ein, die erhaltenen, ausschließlich aus der jüngeren Palastzeit, stammen v. a. aus den Palästen von Knossos und Hagia Triada, aus der Villa von Amnissos sowie aus Akrotiri auf Thera. Sie sind in kräftigen bis hellen bunten Farben gehalten und drücken Natursinn, Gelöstheit und Festlichkeit aus.Die Forschung ist auf die Deutung der minoischen Bildwelt angewiesen und versucht Verbindungen zu knüpfen zu späteren mythologischen Vorstellungen wie zu Zeugnissen zeitgleicher Kulturen oder der vorangehenden Epochen der ägäischen Kultur. Die minoische Kultur kannte keine Kultbilder. Mehrfach dargestellt findet sich jedoch die Fassade des Heiligtums der »Großen Göttin«, wie es auch in den Palästen als dreigeteilte Anlage nachgewiesen ist. Stellvertretend für Kultbau beziehungsweise Kultfassade kann auch ein einziges Element stehen (z. B. eine Säule). Die Göttin wurde auch in Bergheiligtümern und in Höhlen verehrt und vielleicht auch im mehrfach dargestellten Baumkult. Zugeordnet sind ihr (oder vielleicht auch anderen Formen der Göttin oder anderen Gottheiten) außer dem Baum Bergziege, Vögel, Schiffe sowie die Schlangen, als Kultsymbole Hörner und Doppelaxt. In der griechischen Mythologie stehen ihr Artemis und Rhea nahe. Eine männliche Gottheit wurde ihr vielleicht erst später zur Seite gestellt; in Palaikastro wurden (1987/88) die Reste einer chryselephantinen Statuette eines jugendlichen Gottes, möglicherweise des kretischen Zeus von Dikte, aufgefunden. Mit Sicherheit gab es keinen Stiergott oder -kult, sondern der Stier spielte als Opfer für die Göttin seine bedeutende Rolle. Der Kult war im Wesentlichen ein Vegetationskult, der um Geburt, Tod und Wiedergeburt der Natur kreiste. Die Heiligtümer sind Stätten der Erscheinung (Epiphanie) der großen Naturgöttin, ekstatische Zeremonien (Tänze), Gebet und Opfer rufen sie herbei. Für den Totenkult sind die wichtigsten Zeugnisse das Tempelgrab bei Knossos mit Kulträumen und eine Terrakottagruppe aus einem Rundgrab der Messara mit vier sitzenden Verstorbenen und drei vor ihnen stehenden Opfernden. Vermutlich wurden die Riten von Zeit zu Zeit wiederholt. Die meist als Beleg für den Totenkult herangezogenen Fresken des Sarkophags von Hagia Triada (um 1400; Heraklion, Archäologisches Museum) stellen wohl den Ablauf des kultischen Festes einer Vegetationsgottheit dar.Die vorgriechische Sprache Kretas im 2. Jahrtausend v. Chr., die in den in Linear-A-Schrift abgefassten Tontäfelchen vorliegt, wird auch als minoische Sprache bezeichnet. Unsicher bleibt, ob auch die kretische Hieroglyphenschrift diese Sprache wiedergibt. Zahlreiche Ortsnamen Kretas (Knossos, Tylissos) und des griechischen Festlandes (Athen, Theben, Korinth) entstammen vermutlich dieser minoischen Sprache; ferner sind viele griechische Wörter (labyrinthos »Labyrinth«, kyparissos »Zypresse«) aus ihr entlehnt. Auf dem Diskos von Phaistos wird eine sonst unbekannte Bilderschrift verwendet. (kretische Schriften, kretische Sprachen)S. Alexion: Führer durch das Archäolog. Museum von Heraklion (a. d. Griech., Neuausg. Athen 1972);S. Alexion: M. K. (a. d. Griech., 1976);W. Schiering: Funde auf Kreta (1976);P. Demargne: Die Geburt der griech. Kunst (a. d. Frz., Neuausg. 1977);S. Hood: The arts in prehistoric Greece (Harmondsworth 1978);H. Pichler u. W. Schiering: Der Ausbruch des Thera-Vulkans um 1500 v. Chr., in: Naturwiss.en, Jg. 65 (1978);F. Matz: Kreta u. frühes Griechenland (31979);Museum Heraklion, hg. v. J. A. Sakellarakis (Athen 1980);M. I. Finley: Die frühe griech. Welt (a. d. Engl., 1982);P. Faure: Kreta. Das Leben im Reich des Minos (a. d. Frz., 31983);A. Braune: Menes, Moses, Minos. Die Altpalastzeit auf Kreta u. ihre geschichtl. Ursprünge (1988);H. Wingerath: Studien zur Darstellung des Menschen in der minoischen Kunst der älteren u. jüngeren Palastzeit (1995).
Universal-Lexikon. 2012.